Gesunde Grenzen entwickeln

Warum ich meine Grenzen nicht sprenge (Gastbeitrag)

Persönliche Grenzen werden in unserer westlichen Leistungskultur häufig als negativ angesehen. Sie begrenzen. Sie hindern uns. Halten uns zurück. Wir sollen unsere Komfortzone verlassen. Unsere Grenzen sprengen. 

Wir dürfen es uns nicht gönnen, uns mal so richtig kuschelig in der Komfortzone einzurichten. Uns dort zu entspannen, zu verwöhnen. Zur Ruhe kommen? Zu uns kommen? Nein, raus mit dir, sonst wird es dir noch zu wohl! 

„Grenzen sprengen“, das klingt für mich sehr gewaltsam. Es ist die Sprache des Kampfes, Kriegssprache. Und meines Erachtens tun wir uns auch Gewalt an, wenn wir permanent unsere Komfortzone verlassen. Unser Bedürfnis nach Sicherheit, nach Ankommen und Geborgenheit wird so nicht gestillt. In diesem Schutzraum können wir uns erholen für neue Entdeckungen. In dem Mass und so lange, wie es gerade für uns richtig ist. 

Da ist die Angst mit im Spiel, dass ich nicht gut genug bin, wenn ich momentane Grenzen von mir anerkenne. „Jetzt wäre es zu viel für mich, zu dieser Veranstaltung mit so vielen Leuten zu gehen. Ich brauche Zeit für mich.“ – „Was, aber du willst doch raus aus deiner Schüchternheit. Wenn du dich zuhause verkriechst, dann wird das nichts. Du musst lernen, auf Leute zuzugehen.“

Hier schwingt mit: Wenn ich meine Grenzen anerkenne, dann entwickle ich mich nicht weiter. Dann erreiche ich nichts. Dann bin ich nicht gut genug. 

Bei einem Feldenkrais-Workshop vor ein paar Jahren hatte ich diesbezüglich ein Erlebnis, das meine Auffassung und mein Erleben in Bezug auf meine Grenzen grundlegend gewandelt hat. Feldenkrais nennt sich auch „Bewusstheit in Bewegung“, es ist eine sehr achtsame Methode, die es einem erlaubt, eigene Muster durch körperliche Bewegung zu erforschen und so Veränderung auf sanfte Art zu ermöglichen.

Bei einer Körperübung auf dem Boden sollten wir bewusst darauf achten, wann wir bei der Drehung des Beines nach Aussen an unsere körperliche Grenze stossen. Es ging also zunächst einmal darum, die Grenze überhaupt wahrzunehmen: wenn „es stockt“, wir den Atem anhalten oder Schmerzen spüren. Wenn wir unsere Grenzen achten, dann fühlt es sich fliessend an. 

Im zweiten Schritt ging es darum, uns bewusst zu entscheiden: Will ich meine Grenze ausweiten? Es wäre total in Ordnung, in diesem Moment zu beschliessen, nicht weiterzugehen. Wir haben die Bewegung des Beines einige Male wiederholt und auf die Veränderungen geachtet.

Mein Aha-Erlebnis war, dass das achtsame Zulassen meiner Grenzen mir ermöglicht hat, meine Grenzen graduell zu erweitern. Ohne Zwang, ohne Druck, ohne Gewalt. Damit verbunden war ein Gefühl grosser Zufriedenheit und Freude. Das war für mich eine Lebenslektion: „So will ich mit mir umgehen!“. 

Seitdem erlebe ich, dass sich meine Komfortzone und die Erweiterung meiner Grenzen gegenseitig bedingen. Sie sind kein Entweder-Oder mehr. Und meine Grenzen zu erweitern darf neugierig, leicht und spielerisch sein. 

Regina Schlager öffnet im Einzel- und im Gruppensetting Lern- und Erlebensräume. Sie begleitet dabei, auf achtsame Weise mit sich selbst in tiefen Kontakt zu kommen, um aus dieser Verbindung heraus die eigene Berufung zu gestalten. Sie ist Co-Inhaberin und Co-Geschäftsführerin der ReConnect GmbH. Seit Juni 2019 leitet sie die Gaia-Akademie Schweiz in Zürich.

www.reginaschlager.ch

 

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